Die Kinderfalle in Neumühlen

Altonaer Nachrichten, August 1904

Gestern nachmittag glitt ein 11jähriges, in der Konradstraße wohnendes Mädchen, das bei Neumühlen mit seiner jüngeren Schwester spielte, von einem Stackausbau in die Elbe, wurde vom Strom fortgerissen und ertrank trotz sofortiger Rettungsversuche. Die Leiche ist bis jetzt nicht gefunden.

Bekanntlich ließ die Stadtverwaltung in den letzten beiden Jahren in Neumühlen sehr umfangreiche Stackanlagen ausführen, diese sind beendet und der abgezäunte Strand ist zur Freude sämtlicher Bewohner, hauptsächlich der Kinder Altonas zum Spielen freigegeben. Die Behörde hat aber etwas außer Acht gelassen, nämlich daß bei etwas hohem Wasser von der Holzmauer nichts mehr zu sehen ist, und hat den schweren Fehler begangen, an der betreffenden Strecke kein Schutzgitter, nicht einmal eine Warntafel anzuliegen. Diese Unterlassungssünde hat am Sonntag nun ein blühendes Menschenleben mit dem Tode büßen müssen.

Strandleben in Neumühlen um 1900
Strandleben in Neumühlen um 1900

Die Stadtbehörde muß unbedingt sofort Vorsichtsmaßregeln treffen, damit solche Unglücksfälle nicht wieder vorkommen, denn nach Aussage von Wientappers Leuten (Mitarbeiter der Wientapper’schen Badeanstalt in Neumühlen) ist es nicht das erste Mal, daß dort ein Kind plötzlich versunken ist, sondern es ist schon 20 – 30 mal passiert, wenn auch meistens die Betreffenden gerettet sind.

Inzwischen sind bereits 9 Tage verstrichen, ohne daß es gelungen ist, die Leiche des armen Kindes zu bergen. Man vermag den Schmerz der beklagenswerten Eltern zu ermessen, die Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen können wegen des Nichtauffindens der Leiche ihres unglücklichen Töchterleins. Der Vater hat, wie er uns am Montag klagend mitteilte, schon tagelang mittels Totenstange nach dem Leichnam gefischt – bisher vergebens. Er vermutet, daß die Leiche seines Kindes unter dem Neumühlener Brückenponton festgeraten sein muß. Seiner Meinung nach könnte in dieser Beziehung nur Taucherhilfe Erfolg versprechen. Leider fehlen dem Vater hierzu die erforderlichen Mittel.

Die Neumühler Landungsbrücke um 1905
Die Neumühler Landungsbrücke um 1905