Eine Kindheit in Övelgönner: Das Malheur

Die Ölkann also erweckte meine Aufmerksamkeit. Sie war total verschmiert, wie eben alle Ölkannen, auch die bei Lührs, mit der die Räder der kleinen Slippwagen geölt wurden. Sicherlich müssen Ölkannen so sein. Gerade wollte ich sie einer genaueren Betrachtung unterziehen, als sich in meinem Kopf die Automatik einschaltete: „… denk an Dein sauberes Zeug!“

Mit spitzen Fingern und dem Zeitungspapier probierte ich die Ölkanne genau aus. Die Pumpe arbeitete wundervoll.

In der Laube fand ich ein Stück Zeitungspapier. Mit spitzen Fingern und dem Zeitungspapier probierte ich die Ölkanne genau aus. Die Pumpe arbeitete wundervoll. Schon nach zwei- oder dreimal Drücken schoss ein langer, dünner Strahl aus der leicht gebogenen Tülle. An den Inhalt der Ölkanne verschwendete ich eigentlich keinen Gedanken. – Was im Wasser schwimmt, kann auch nur mit Wasser gefüllt sein. – Was tun mit dem Ding? Ein Gedanke, so klein und leicht wie eine grünhaarige Raupe schlängelte sich durch meinen blonden Lockenkopf: ‚Die vielen Spaziergänger oben in Oevelgönne (!)…‘ Heute, am Pfingstsonntag gingen sie so dicht gedrängt, dass man gar keine einzelnen Familien mehr unterscheiden konnte. Es müsste doch eigentlich sehr ergötzlich sein, einer Frau oder einem kind mal einen dünnen Wasserstrahl an die bloßen Beine zu spritzen – gedacht, getan.

Ich wickelte die Kanne in das Zeitungspapier (ja nicht schmutzig machen) und verzog mich in den oberen Vorgarten. Ich plazierte die Ölkanne am Boden zwischen den Gitterstäben, so dass die Tülle von der Straße her nicht zu sehen war. Mein rechter Fuß ruhte leicht auf dem Kopf der Pumpe. Schon nach wenigen Minuten kamen die richtigen Leute: ein junges Mädchen mit zwei Kindern an der Hand. Alle drei keine Strümpfe an! Ich wollte ja keinen Schaden machen: Nur ein bißchen Wasser an die bloßen Beine!

Jetzt mußt Du um Dein Leben rennen.‘ Die Stufen hinauf (!), ich sprang sie förmlich hinauf, zwei, drei auf einmal.

Als die drei genau auf der Höhe meiner Ölkanne waren, trat ich kräftig auf die Pumpe, drei-, viermal, aber kein Wasser kam. Ich trat voller Verzweiflung weiter auf dei Pumpe. Inzwischen war das junge Mädchen mit den Kindern aus meinem Schußfeld geraten. Voller Verzweiflung trat ich weiter auf die Pumpe, immer schneller. Dann kam es, ganz plötzlich: Ein langer, schwarzer Strahl schoß auf die Straße – schoß gegen ein schneeweißes Hosenbein! Noch ehe der Besitzer des Hosenbeins die Situation voll erfaßt hatte, wieso seine Hose plötzlich vom Knie bis zur Hacke voll mit schwarzem Öl war, war ich mit einer Flanke über das Vorgartengitter und rannte der Wolfschen Treppe zu, die zur Elbchaussee hinaufführte. Ein Blick in das Gesicht des Hosenbeibesitzers (es war nur der Bruchteil einer Sekunde) hatte mir gesagt: ‚Jetzt mußt Du um Dein Leben rennen.‘ Die Stufen hinauf (!), sie waren aus kleinen Natursteinen gelegt; ich sprang sie förmlich hinauf, zwei, drei auf einmal. Ein kurzer Blick über meine Schulter zeigte mir, die weiße Hose kam hinter mir her.

Ich hatte die halbe Höhe zur Elbchaussee erreicht, da lag rechts die sogenannte Plattform. Es war eine ebene Fläche von ca. 25 mal 15 Metern. In der Mitte dieser Plattform stand eine riesige Eiche. Der Stamm war gerade gewachsen und hatte bis zu einer Höhe von 10 Metern keine Äste. An der Rückseite der Plattform stand eine ebenso große Birke. In diese Birke hatten vor vielen Jahren Leute (heute sind sie wahrscheinlich seriöse Lotsen) Steignägel in den Stamm geschlagen, so dass man Hand über Hand den Stamm hinaufklettern konnte. In der ersten Gabelung der Birke lag ein dicker Manila-Tampen von gut drei Zoll Durchmesser. Am Ende des Tampens war ein überdimensionaler Knoten, der, wie gesagt, in der Astgabel der Birke hing. Das andere Ende des Tampens war hoch in der Eiche festgemacht. Die Länge des Tampens war so genau berechnet, dass, wenn man sich auf den Knoten setzte (die Beine Richtung Eiche, und sich aus der Astgabel rutschen ließ), man nach einer kleinen Luftreise in einer Astgabel der Eiche landete. Man brauchte nur die gestreckten Beine abzuwinkeln, und schon saß man fest in der Astgabel. Zurück ging es genauso. Der Schwingtampen war haargenau in der Mitte der beiden Astgabeln festgemacht. Das Ganze war ein technisches Meisterwerk.

Dieser Birke strebte ich zu, sie war meine letzte Rettung.

Dieser Birke strebte ich zu, sie war meine letzte Rettung. Ich hatte den Fuß der Birke erreicht und begann den Aufstieg über die Nägel. Die weiße Hose war mir dicht auf den Fersen. Ich hatte fast den Manila-Tampen erreicht, als ich sah, dass auch die Weißhose den Baum zu besteigen begann. Mut hatte der junge Mann auf alle Fälle; und dieser Mut machte ihn ebenso gefährlich. Inzwischen hatte ich den Knoten zwischen meine Beine genommen und war klar zum Abschwirren. Ich ließ die Weißhose bis zu einem Meter zu mir heraufkommen, dann entfleuchte ich mit einem kleinen Lächeln hinüber zu der Eiche. Ich machte es mir in der Astgabel bequem. Der Mann stieg von der Birke herunter, stand ein Weilchen unter der Eiche, sah ein paarmal zu mir hoch und verließ dann die Plattform in Richtung Oevelgönne. Was mir plötzlich auffiel: der Mann hatte mich überhaupt nicht beschimpft oder mich aufgefordert, von dem Baum herunterzukommen. Eigentlich komisch…, aber dann fiel mir plötzlich ein, wie der Mann gekeucht hatte, als er die Birke hochgeklettert kam. Der Mann war vollkommen außer Atem gewesen: Daher keine Beschimpfung!